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Sonntag, 8. September 2002
heiliges land außer betrieb

Süddeutsche Zeitung, Mittwoch, 21. August 2002, Seite 3

Leere Gassen, leere Kassen, leere Strände: „Heute überlegen die Leute zweimal, ob sie viereinhalb Schekel ausgeben“

Heiliges Land außer Betrieb

Touristen kommen nicht mehr, Investoren geben nichts mehr, Menschen haben nichts mehr–wie 23 Monate Intifada den Alltag der Israelis veränderten

Von Thorsten Schmitz

Jerusalem, im August–Alon Livnat kniet auf allen Vieren und schwitzt aus jeder Pore. Er trägt nur eine Badehose, im Aschenbecher glimmt eine Marlboro, und im Radio verlesen sie gerade die Meldung, dass bis Ende diesen Jahres mit der Rekordarbeitslosenmarke von 300000 gerechnet werden müsse. Sollte nicht doch noch ein Wunder geschehen. Streng genommen, sagt Alon Livnat und wischt sich den Schweiß aus dem unrasierten Gesicht, „müssten ja zwei Wunder gleichzeitig geschehen“. Ein Stopp der Intifada, die jetzt schon fast zwei Jahre andauert, und ein Ende der weltweiten Rezession. Da mit dem Eintreten beider Wunder so bald nicht zu rechnen ist, widmet sich Alon einer Beschäftigung, die vor drei Monaten noch außerhalb seines Horizonts lag: Bodenwischen.

Es ist so heiß, dass Duschen keinen Sinn macht, es sei denn, man verfügt über eine Klimaanlage. Die stellt Alon Livnat aber seit drei Monaten nicht mehr an, sie frisst zu viel Strom. Für den Putzmann aus Manila hat Alon Livnats Haushaltskasse auch keine 100 Schekel mehr in der Woche übrig, etwa 25 Euro sind das. Also begibt er sich jetzt jeden Sonntag, wenn in Israel die Arbeitswoche beginnt, nicht in ein vollklimatisiertes Büro und zum Lunch in eines der Restaurants in Herzlija, dem Silicon Wadi von Israel, sondern er bückt sich und macht Jagd auf Staubflusen und Strandsand. Wenn die Zwei-Zimmer-Wohnung nach Ajax riecht, geht Alon Livnat los, den Weg zum Strand, an dem er zusammen mit dem Bademeister wohl der Einzige sein wird. Touristen wagen sich schon lange nicht mehr an Israels Küste. Und im Unterschied zu denen wissen die Israelis, dass es im Mittelmeer vor Tel Aviv und Herzlija einen gefährlichen Untersog geben kann, der einen hinauszieht aufs offene Meer. Wenn Computerfreak Alon Livnat zum Strand läuft, mit den Stellenanzeigen und einer Flasche Mineralwasser, dann schleicht er durch Nebengassen: „Ich schäme mich, Kollegen zu treffen.“ Sie könnten denken, er sei faul. Dabei hat Livnat 120 Bewerbungen verschickt –und eine einzige Antwort erhalten. Eine Absage, was sonst.

Ende eines Rausches

Alon Livnat war einer der Ersten in seiner Firma, die entlassen wurden, obwohl er einer der Besten war–weil er jung ist, unverheiratet und erst seit zwei Jahren dabei. „Die Vollbremsung“, sagt er, „hat mich kalt erwischt.“ Er habe ein Leben geführt „wie im Traum“: Morgens wie unter Strom aus dem Bett geschnellt, in die Firma gedüst, mit New York und London konferiert, in den Mittagspausen schicke Restaurants aufgesucht, bis Mitternacht den Umsatz der Firma hochgejazzt zur größten Zufriedenheit der Bosse, so dass diese sogar nachts mit Essen vorbeikamen. Einen BMW hat er durch die Alleen in Herzlija gejagt, bei Gucci Oberhemden erstanden, ist dreimal im Jahr in den Urlaub gefahren, nach Long Island zum Entspannen, zum Tauchen nach Acapulco. „Ein Rausch“, und Alon Livnat schaut, als erinnere er sich an einen LSD-Tripp. 12000 Angestellte der gerühmten israelischen High- Tech-Industrie sind in den letzten zwei Jahren entlassen worden. Sie leben nun auf Entzug.

Israel wird seit 23 Monaten von einer Rezession heimgesucht, die an die düsteren Zeiten in den Sechziger- und Siebzigerjahren erinnert. Damals, zwischen dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg 1973, war der Lebensstandard auf ein Rekordtief gefallen. Die Wirtschaft lag wegen hoher Verteidigungsausgaben brach, die Menschen überlegten sich zweimal, ob sie einen Kaffee trinken gehen sollten. Mit Beginn der Intifada vor 23 Monaten holte die Vergangenheit das Land wieder ein: Wer sich auf die Reise begibt, findet Depression überall. Der Kampf gegen den Aufstand der Palästinenser hat bislang zehn Milliarden Euro verschlungen, die Premierminister Ariel Scharon im kommenden Haushalt durch grobe Kürzungen auch im Sozialbereich wettzumachen sucht. Er riskiert dabei die Gefolgschaft der wichtigsten Koalitionspartner, der Arbeitspartei „Awoda“ und der ultra-orthodoxen „Schas“, deren Klientel meist aus sozial benachteiligten Familien kommt.Schon hängt das Damoklesschwert von Neuwahlen über den sechs Millionen Israelis–und allerorten geht ein Seufzer durch Israel: „Wer braucht ausgerechnet jetzt Neuwahlen?“ schreiben die Kommentatoren und machen zugleich die Regierung für die Rezession verantwortlich. Wie jede Regierung hat auch diese ihr Hauptaugenmerk auf die Bekämpfung palästinensischer Gewalt gelegt. Scharons Popularität schwindet, und weil er das stoppen will, hat er einen Sündenbock für die Misere ausgemacht: die Gastarbeiter. 50000 Thailänder und Philippiner sollen nun des Landes verwiesen werden–wohl wissend, dass arbeitslose Israelis nicht unbedingt deren Arbeiten verrichten möchten. Die Gastarbeiter kümmern sich um Alte und Kranke, putzen, schuften auf dem Bau. Sie haben die Palästinenser ersetzt, die vor Beginn der Intifada die Schmutzarbeit der Israelis übernommen hatten und jetzt nicht mehr nach Israel dürfen.

Die Israelis haben immer weniger Geld und geben folglich keines aus, Touristen vermeiden aus Angst einen Urlaub am Roten oder am Mittelmeer, Fluggesellschaften kappen ihre Verbindungen nach Tel Aviv, Investoren canceln geplante Kapitalanlagen, Seminare werden nicht mehr in Jerusalem abgehalten, sondern in ungefährlicheren Mittelmeergebieten wie Malta oder auf Zypern.

Mahmuds Kabuff

In diesem Jahr rechnet das Tourismusministerium mit höchstens 800000 Touristen, üblicherweise strömen bis zu 2,5 Millionen jedes Jahr ins Heilige Land. Mehr als 50000 Menschen in den Hotels und Ferienressorts haben ihren Job verloren, nochmal so viele sind auf Kurzarbeit gesetzt. In Tiberias am See Genezareth mussten sechs Hotels schließen, in Tel Aviv locken die 5-Sterne-Paläste Einheimische mit Wochenendtarifen, und im heißesten Monat August bruzzeln nur noch ein paar Dutzend Unerschrockene in der Sonne, meist jüdische Franzosen aus Solidarität mit dem Staat. Israel wird in diesem Jahr nur mit rund einer Milliarde Euro an Deviseneinnahmen aus dem Tourismus rechnen können, dem drittwichtigsten Devisenbringer. Üblicherweise sind es zwischen vier und fünf Milliarden Euro. Arie Sommer vom Tourismusministerium erklärt die neue verzweifelte Strategie: „Wir werden an die Solidarität appellieren nach dem Motto ’Unterstützt uns!‘“ Doch Rufe wie dieser verhallen ungehört.

An einem beliebigen Tag in der Altstadt von Jerusalem, morgens um zehn: gähnende Leere. Die Verkäufer vom Basar rauchen Zigaretten, dösen, kauen an Fingernägeln. Sie schauen den jüdischen Religionsschülern auf dem Weg zur Klagemauer nach und jedem Fremden schenken sie ein Lächeln mit der Aufforderung, etwas zu kaufen. Manche nehmen Lederportemonnaies und Postkarten und halten sie den paar mutigen Passanten unter die Nase, andere warten teetrinkend bis zum Abend. Es ist ein Warten auf den Messias, aber nichts tut sich. Die Altstadt, ansonsten die größte Geldmaschine Jerusalems für Juden wie für Araber, ist außer Betrieb. Machmud Dachlan sitzt in seinem kleinen Kabuff und pult den Dreck unter seinen Fingernägeln weg. Seit einem Monat öffnet der 24-jährige Palästinenser jeden Morgen die grünen Eisentüren zu seinem Laden, und jeden Abend schließt er sie wieder, ohne dass er auch nur einen Schekel verdient hat. Manche Kollegen haben es längst aufgegeben, in der berühmten Altstadt christlichen Pilgern entgegen zu lächeln und verrammeln ihre Geschäfte.

Der Alltag in den israelischen Großstädten hat sich in den letzten zwei Jahren auch spürbar geändert: In Kinos bekommt man jetzt donnerstags und freitags Karten, Restaurants in Jerusalem und in Tel Aviv sind an den Abenden verwaist. Um nicht dichtzumachen, verfügt jetzt fast jedes Restaurant über einen Home-Service: Die Mahlzeiten werden nach Hause geliefert. Videotheken verzeichnen ein Umsatzplus, während die Tel Aviver Stadtzeitung Ha Ir eine Fotostrecke druckt: „Leere Kühlschränke“. Auf den Bildern sind geöffnete Kühlschränke zu sehen und ihre Besitzer. Fein säuberlich wird aufgelistet, was zum Essen bleibt: eine Büchse Thunfisch, Mineralwasser, fünf Pitabrote und manchmal Bier. Die größte Warenhauskette „Ha Maschbir“ zahlt ihren Angestellten erst Mitte August die Hälfte des Juli-Gehalts, und am Wochenende fasst die Polizei einen 12-jährigen Schüler, der, mit einem Messer bewaffnet, in der Wüstenstadt Beer Scheva einen Pizzalieferanten überfallen hat. Nicht, um an dessen Geld zu gelangen, sondern an die heißen Pizzas in der Thermotasche. Der Polizei sagt der Junge: „Ich hatte Hunger.“

Kiosk der Langeweile

Bernardo Fischer steht in kurzen Hosen und weißem T-Shirt in seinem Kiosk an der lautesten Kreuzung Tel Avivs und schmiert Brote. Eines mit Thunfisch, eines mit Eiern und Salatblättern, eines mit Rührei, das seine Frau Karmiela am Morgen zubereitet hat. Der Fernseher läuft, ein heißer Wind weht vom Strand, und der 52 Jahre alte Bernardo zählt die Stunden bis zum Ladenschluss. Der Kiosk war nie Bernardos Idee, es war sein Vater, Salomon, der, aus Argentinien kommend, ein Auskommen suchte für die Familie und den Kiosk eröffnete. Die Glanzzeiten allerdings sind Vergangenheit. Auch wegen der Intifada. „Früher war schon am Morgen der Stapel Zeitungen weg“, sagt Bernardo Fischer und nascht eine Gurke, „heute überlegen die Leute zweimal, ob sie viereinhalb Schekel (1 Euro) ausgeben.“ Früher wurde Fischer zwischen 500 und 600 Zeitungen los, heute höchstens 30 am Tag. Ohne die Hilfe der ganzen Familie wäre das Kiosk längst der Rezession zum Opfer gefallen. Morgens ab vier drapiert Großvater Salomon Zeitungen und Zeitschriften um den Kiosk herum, ab halb sieben löst ihn der Sohn ab und bleibt bis zum Mittagessen. Am Nachmittag steht Bernardo Fischer sich wieder die Beine in den Bauch, bis Mitternacht, manchmal bis um eins. Die größte Freiheit, die sich der Herr über vier Quadratmeter gönnt, ist morgens zwischen fünf und halb sieben: Dann joggt Bernardo Fischer dem Sonnenaufgang entgegen und vergisst die Intifada, den Kiosk, die Langeweile. Der Umsatz ist in den letzten zwei Jahren um 50 Prozent zurückgegangen, eine Dose Cola, Marzipan aus Deutschland und Zigaretten sind plötzlich Luxus geworden. „Es sind auch viel weniger Menschen auf den Straßen, sie trauen sich wegen der Anschläge nicht ’raus oder haben einfach kein Geld“, hat er beobachtet.

Nur eine Ware bringe steten Gewinn: die mehr als vierzig verschiedenen Pornohefte. Während Bernardo von den trüben Zeiten spricht, bittet ein orthodoxer Israeli mit leiser Stimme um vier Pornohefte, „egal welche“. Diskret stopft Bernardo Fischer die Hefte in eine Tüte und legt das Geld in die Kasse, 250 Schekel, etwa 60 Euro. Zum ersten Mal an diesem Tag strahlt er.

 
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