konferenz landeskirchlicher arbeitskreise »christen und juden«
 
spitzenkandidaten der parteien betonen existenzrecht israels

Umfrage der "Jüdischen Allgemeinen" belegt weitgehende Übereinstimmung in Grundfragen

Berlin (epd). Die Spitzenkandidaten der sechs im Bundestag vertretenen Parteien haben sich einhellig für das Existenzrecht Israels und für die Notwendigkeit der Sicherung eines dauerhaften Friedens im Nahen Osten ausgesprochen. Bei einer Umfrage der in Berlin erscheinenden "Jüdischen Allgemeinen" (Ausgabe vom 12. September) betonte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) zugleich die "historische Verpflichtung Deutschlands gegenüber Israel" und die Notwendigkeit, entschieden gegen Antisemitismus und Fremdenhass einzutreten.

Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hob hervor, die Politik ihrer Partei sei von einem "demonstrativen Bekenntnis zu jüdischem Leben in Deutschland" geprägt. Der Spitzenkandidat der Grünen, Joschka Fischer, und CDU-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber hoben beide die Bedeutung einer Auseinandersetzung mit den "im deutschen Namen begangenen Verbrechen" an den Juden hervor.

FDP-Chef Guido Westerwelle unterstrich hingegen das Recht auf Kritik an Israel. "Kritik an der israelischen Regierungspolitik ist weder Antisemitismus noch anti-israelische Politik", erklärte er. Die Vorsitzende der PDS, Gabi Zimmer, würdigte die jüdische Kultur als einen wesentlichen Bestandteil der deutschen Kultur.

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schweriner landesbischof verurteilt friedhofsschändungen

Schwerin (epd). Der Schweriner evangelische Landesbischof Hermann Beste hat die jüngsten Schändungen jüdischer Friedhöfe in Mecklenburg-Vorpommern verurteilt. Er hoffe, dass die Täter ermittelt und festgenommen und die nötigen gerichtlichen Schritte gegen sie eingeleitet werden, sagte Beste am 9. September auf Anfrage in Schwerin.

Die Schändungen seien erschreckend. Sie zeigten, dass die Täter zu feige seien und jeglicher Auseinandersetzung über ihre Motive auswichen. Die jüdischen Erinnerungsstätten seien wichtige Stationen der Geschichte des deutschen Volkes, zu der die Juden gehören, sagte Beste weiter.

In den letzten Tagen waren die jüdischen Friedhöfe in den mecklenburgischen Städten Bützow und Grevesmühlen sowie die KZ-Gedenkstätte in Wöbbelin bei Ludwigslust geschändet worden.

Polizei: Zehnköpfige Ermittlungsgruppe arbeitet auf Hochtouren

Nach Angaben des Landeskriminalamtes ermittelt derzeit eine zehnköpfige Sonderkommission "auf Hochtouren" in Zusammenarbeit mit der brandenburgischen Polizei. Aus Rücksicht auf das laufende Verfahren wollte ein Sprecher keine näheren Auskünfte geben.

Dem Schweriner Innenministerium zufolge wurden in den ersten sechs Monaten dieses Jahres in Mecklenburg-Vorpommern bereits 33 antisemitische Straftaten registriert. 2001 waren es insgesamt 44 Fälle.

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brandanschlag auf kz–gedenkstätte im belower wald

Antisemitische Sprüche und Hakenkreuze
Ermittler vermuten zielgerichtete Aktion vor jüdischem Neujahrsfest

Von Claus-Dieter Steyer und Sandra Dassler

Below. Bei einem offensichtlich antisemitisch motivierten Brandanschlag sind das Museum und die Gedenkstätte des Todesmarsches der KZ-Häftlinge im Belower Wald bei Wittstock schwer beschädigt worden. Der linke Gebäudeteil brannte nahezu aus. Mehrere einmalige Erinnerungsgegenstände an die Häftlinge der Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück wurden zerstört. Auf die Erinnerungsstele mit dem Ausspruch „Menschen seid wachsam!“ sprühten die Täter ein großes Hakenkreuz und zwei SS-Runen. Daneben schrieben sie in großen Lettern: „Juden haben kurze Beine.“ Staatsanwaltschaft und Polizei setzten eine Sonderkommission ein. Ministerpräsident Matthias Platzeck bekundete seine Bestürzung über den „infamen Anschlag“. Das Justizministerium schrieb eine Belohnung in Höhe von 10 000 Euro für Hinweise auf die Täter aus.

Genau um 1.47 Uhr in der Nacht zum Donnerstag schrillten bei Polizei und einem privaten Wachschutz die Alarmanlagen. Sie signalisierten einen „Vorfall“ in der mitten im Wald gelegenen und seit Anfang der siebziger Jahre bestehenden Gedenkstätte. Streifenwagen machten sich gemeinsam mit der Wittstocker Feuerwehr sofort auf den Weg. Deren schnelles Eingreifen verhinderte einen größeren Schaden. Die Brandherde konnten rechtzeitig gelöscht werden. „Wir sind knapp an einer noch größeren Katastrophe vorbeigeschrammt“, sagte der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Günter Morsch. „Es hätte nicht viel gefehlt und das ganze Haus wäre abgebrannt.“ Zum Glück hätten sich einige Brandbeschleuniger nicht entzündet.

Die Gedenkstätte gehört zu den Einrichtungen, die durch die Polizei besonders geschützt werden. Peter Fischer, zuständiger Mitarbeiter für die KZ-Gedenkstätten im Zentralrat der Juden, vermutete gestern einen zielgerichteten Anschlag. „Am Freitagabend beginnt das jüdische Neujahrsfest“, sagte er. „Als vor 12 Jahren die beiden jüdischen Baracken im KZ Sachsenhausen brannten, geschah dies auch einen Tag vor dem großen Fest.“ Dazu komme der vieldeutige Schriftzug, mit dem der Holocaust „wieder einmal“ geleugnet werden solle.

Die Polizei begann noch in der Nacht mit der Spurensicherung und der Befragung von Einwohnern in der Umgebung. „Wahrscheinlich ist das Gelände schon an vergangenen Tagen ausgespäht worden“, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Neuruppin, Gert Schnittcher. „Deshalb fragen wir nach auffälligen Fahrzeugen und fremden Personen.“ Die Lage der Gedenkstätte macht die Fahndung allerdings nicht leicht. In Hörweite führt die Autobahn A 19 Berlin – Rostock vorbei. Von einem Rastplatz ist ein Wanderweg ausgeschildert, so dass die Täter leicht entkommen konnten.

Ende April 1945 wurden in dem Wald bei Below mehr als 30 000 Häftlinge aus den Lagern Sachsenhausen und Ravenbrück zusammengezogen. Unter strenger SS-Bewachung waren sie auf Todesmärsche gezwungen worden. Hunderte überlebten die Tortur nicht. Sie wurden erschossen oder starben an Hunger und Entkräftung. In Brandenburg und Mecklenburg erinnern viele Tafeln an Stationen des Todesmarsches. Sie sind immer wieder Ziel von Schändungen und Zerstörungen. Einen so schweren Vorfall wie jetzt im Belower Wald aber hat es seit 1992 nicht mehr gegeben. Der Sprecher des Brandenburger Innenministeriums Heiko Homburg kündigte für die nächsten Tage verstärkte Kontrollen der etwa 100 jüdischen Einrichtungen im Land an.

Der Vorsitzende des Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, Rolf Wischnath, nannte die Tat „beschämend“. Sie zeige, dass Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus nach wie vor ein großes Problem darstellten. Man wisse, dass im nur etwa zehn Kilometer vom Tatort entfernten Wittstock eine starke NPD-Gruppe existiere. Bürgermeister Lutz Scheidemann (FDP) schätzt deren Mitgliedsstärke auf 25 bis 30 Personen. Dazu kämen noch einige Sympathisanten. Die Rechtsextremisten hätten in der Vergangenheit den Ruf der Stadt erheblich beschädigt.

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museum des todesmarsches im wald von below

Ein kleines Museum erinnert an den Todesmarsch der evakuierten Insassen der Lager Ravensbrück und Sachsenhausen und des Außenlagers Heinkel im April 1945. Die Nationalsozialisten trieben die halbwegs marschfähigen Häftlinge kurz vor der Befreiung der Konzentrationslager in Richtung Norden. Es waren 15.000 Häftlinge aus Ravensbrück und rund 33.000 aus Sachsenhausen, die täglich 40 km Fußmarsch krank, unterernährt und nur notdürftig gekleidet auf sich nehmen mußten. Viele tausend Häftlinge starben auf diesem Marsch oder wurden von SS-Leuten ermordet
Öffnungszeiten: 1. März bis 15. Juni Di bis So 9 - 16 Uhr 16. Juni bis 15. September Di bis So 9 - 17 Uhr 16. September bis 30. November Di bis So 9 - 16 Uhr 1. Dezember bis 28. Februar Mo bis Fr 9 - 16 Uhr
Adresse: Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen Außenstelle Museum des Todesmarsches Belower Damm 1 16909 Wittstock Tel.: 039925 / 2478

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heiliges land außer betrieb

Süddeutsche Zeitung, Mittwoch, 21. August 2002, Seite 3

Leere Gassen, leere Kassen, leere Strände: „Heute überlegen die Leute zweimal, ob sie viereinhalb Schekel ausgeben“

Heiliges Land außer Betrieb

Touristen kommen nicht mehr, Investoren geben nichts mehr, Menschen haben nichts mehr–wie 23 Monate Intifada den Alltag der Israelis veränderten

Von Thorsten Schmitz

Jerusalem, im August–Alon Livnat kniet auf allen Vieren und schwitzt aus jeder Pore. Er trägt nur eine Badehose, im Aschenbecher glimmt eine Marlboro, und im Radio verlesen sie gerade die Meldung, dass bis Ende diesen Jahres mit der Rekordarbeitslosenmarke von 300000 gerechnet werden müsse. Sollte nicht doch noch ein Wunder geschehen. Streng genommen, sagt Alon Livnat und wischt sich den Schweiß aus dem unrasierten Gesicht, „müssten ja zwei Wunder gleichzeitig geschehen“. Ein Stopp der Intifada, die jetzt schon fast zwei Jahre andauert, und ein Ende der weltweiten Rezession. Da mit dem Eintreten beider Wunder so bald nicht zu rechnen ist, widmet sich Alon einer Beschäftigung, die vor drei Monaten noch außerhalb seines Horizonts lag: Bodenwischen.

Es ist so heiß, dass Duschen keinen Sinn macht, es sei denn, man verfügt über eine Klimaanlage. Die stellt Alon Livnat aber seit drei Monaten nicht mehr an, sie frisst zu viel Strom. Für den Putzmann aus Manila hat Alon Livnats Haushaltskasse auch keine 100 Schekel mehr in der Woche übrig, etwa 25 Euro sind das. Also begibt er sich jetzt jeden Sonntag, wenn in Israel die Arbeitswoche beginnt, nicht in ein vollklimatisiertes Büro und zum Lunch in eines der Restaurants in Herzlija, dem Silicon Wadi von Israel, sondern er bückt sich und macht Jagd auf Staubflusen und Strandsand. Wenn die Zwei-Zimmer-Wohnung nach Ajax riecht, geht Alon Livnat los, den Weg zum Strand, an dem er zusammen mit dem Bademeister wohl der Einzige sein wird. Touristen wagen sich schon lange nicht mehr an Israels Küste. Und im Unterschied zu denen wissen die Israelis, dass es im Mittelmeer vor Tel Aviv und Herzlija einen gefährlichen Untersog geben kann, der einen hinauszieht aufs offene Meer. Wenn Computerfreak Alon Livnat zum Strand läuft, mit den Stellenanzeigen und einer Flasche Mineralwasser, dann schleicht er durch Nebengassen: „Ich schäme mich, Kollegen zu treffen.“ Sie könnten denken, er sei faul. Dabei hat Livnat 120 Bewerbungen verschickt –und eine einzige Antwort erhalten. Eine Absage, was sonst.

Ende eines Rausches

Alon Livnat war einer der Ersten in seiner Firma, die entlassen wurden, obwohl er einer der Besten war–weil er jung ist, unverheiratet und erst seit zwei Jahren dabei. „Die Vollbremsung“, sagt er, „hat mich kalt erwischt.“ Er habe ein Leben geführt „wie im Traum“: Morgens wie unter Strom aus dem Bett geschnellt, in die Firma gedüst, mit New York und London konferiert, in den Mittagspausen schicke Restaurants aufgesucht, bis Mitternacht den Umsatz der Firma hochgejazzt zur größten Zufriedenheit der Bosse, so dass diese sogar nachts mit Essen vorbeikamen. Einen BMW hat er durch die Alleen in Herzlija gejagt, bei Gucci Oberhemden erstanden, ist dreimal im Jahr in den Urlaub gefahren, nach Long Island zum Entspannen, zum Tauchen nach Acapulco. „Ein Rausch“, und Alon Livnat schaut, als erinnere er sich an einen LSD-Tripp. 12000 Angestellte der gerühmten israelischen High- Tech-Industrie sind in den letzten zwei Jahren entlassen worden. Sie leben nun auf Entzug.

Israel wird seit 23 Monaten von einer Rezession heimgesucht, die an die düsteren Zeiten in den Sechziger- und Siebzigerjahren erinnert. Damals, zwischen dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 und dem Jom-Kippur-Krieg 1973, war der Lebensstandard auf ein Rekordtief gefallen. Die Wirtschaft lag wegen hoher Verteidigungsausgaben brach, die Menschen überlegten sich zweimal, ob sie einen Kaffee trinken gehen sollten. Mit Beginn der Intifada vor 23 Monaten holte die Vergangenheit das Land wieder ein: Wer sich auf die Reise begibt, findet Depression überall. Der Kampf gegen den Aufstand der Palästinenser hat bislang zehn Milliarden Euro verschlungen, die Premierminister Ariel Scharon im kommenden Haushalt durch grobe Kürzungen auch im Sozialbereich wettzumachen sucht. Er riskiert dabei die Gefolgschaft der wichtigsten Koalitionspartner, der Arbeitspartei „Awoda“ und der ultra-orthodoxen „Schas“, deren Klientel meist aus sozial benachteiligten Familien kommt.Schon hängt das Damoklesschwert von Neuwahlen über den sechs Millionen Israelis–und allerorten geht ein Seufzer durch Israel: „Wer braucht ausgerechnet jetzt Neuwahlen?“ schreiben die Kommentatoren und machen zugleich die Regierung für die Rezession verantwortlich. Wie jede Regierung hat auch diese ihr Hauptaugenmerk auf die Bekämpfung palästinensischer Gewalt gelegt. Scharons Popularität schwindet, und weil er das stoppen will, hat er einen Sündenbock für die Misere ausgemacht: die Gastarbeiter. 50000 Thailänder und Philippiner sollen nun des Landes verwiesen werden–wohl wissend, dass arbeitslose Israelis nicht unbedingt deren Arbeiten verrichten möchten. Die Gastarbeiter kümmern sich um Alte und Kranke, putzen, schuften auf dem Bau. Sie haben die Palästinenser ersetzt, die vor Beginn der Intifada die Schmutzarbeit der Israelis übernommen hatten und jetzt nicht mehr nach Israel dürfen.

Die Israelis haben immer weniger Geld und geben folglich keines aus, Touristen vermeiden aus Angst einen Urlaub am Roten oder am Mittelmeer, Fluggesellschaften kappen ihre Verbindungen nach Tel Aviv, Investoren canceln geplante Kapitalanlagen, Seminare werden nicht mehr in Jerusalem abgehalten, sondern in ungefährlicheren Mittelmeergebieten wie Malta oder auf Zypern.

Mahmuds Kabuff

In diesem Jahr rechnet das Tourismusministerium mit höchstens 800000 Touristen, üblicherweise strömen bis zu 2,5 Millionen jedes Jahr ins Heilige Land. Mehr als 50000 Menschen in den Hotels und Ferienressorts haben ihren Job verloren, nochmal so viele sind auf Kurzarbeit gesetzt. In Tiberias am See Genezareth mussten sechs Hotels schließen, in Tel Aviv locken die 5-Sterne-Paläste Einheimische mit Wochenendtarifen, und im heißesten Monat August bruzzeln nur noch ein paar Dutzend Unerschrockene in der Sonne, meist jüdische Franzosen aus Solidarität mit dem Staat. Israel wird in diesem Jahr nur mit rund einer Milliarde Euro an Deviseneinnahmen aus dem Tourismus rechnen können, dem drittwichtigsten Devisenbringer. Üblicherweise sind es zwischen vier und fünf Milliarden Euro. Arie Sommer vom Tourismusministerium erklärt die neue verzweifelte Strategie: „Wir werden an die Solidarität appellieren nach dem Motto ’Unterstützt uns!‘“ Doch Rufe wie dieser verhallen ungehört.

An einem beliebigen Tag in der Altstadt von Jerusalem, morgens um zehn: gähnende Leere. Die Verkäufer vom Basar rauchen Zigaretten, dösen, kauen an Fingernägeln. Sie schauen den jüdischen Religionsschülern auf dem Weg zur Klagemauer nach und jedem Fremden schenken sie ein Lächeln mit der Aufforderung, etwas zu kaufen. Manche nehmen Lederportemonnaies und Postkarten und halten sie den paar mutigen Passanten unter die Nase, andere warten teetrinkend bis zum Abend. Es ist ein Warten auf den Messias, aber nichts tut sich. Die Altstadt, ansonsten die größte Geldmaschine Jerusalems für Juden wie für Araber, ist außer Betrieb. Machmud Dachlan sitzt in seinem kleinen Kabuff und pult den Dreck unter seinen Fingernägeln weg. Seit einem Monat öffnet der 24-jährige Palästinenser jeden Morgen die grünen Eisentüren zu seinem Laden, und jeden Abend schließt er sie wieder, ohne dass er auch nur einen Schekel verdient hat. Manche Kollegen haben es längst aufgegeben, in der berühmten Altstadt christlichen Pilgern entgegen zu lächeln und verrammeln ihre Geschäfte.

Der Alltag in den israelischen Großstädten hat sich in den letzten zwei Jahren auch spürbar geändert: In Kinos bekommt man jetzt donnerstags und freitags Karten, Restaurants in Jerusalem und in Tel Aviv sind an den Abenden verwaist. Um nicht dichtzumachen, verfügt jetzt fast jedes Restaurant über einen Home-Service: Die Mahlzeiten werden nach Hause geliefert. Videotheken verzeichnen ein Umsatzplus, während die Tel Aviver Stadtzeitung Ha Ir eine Fotostrecke druckt: „Leere Kühlschränke“. Auf den Bildern sind geöffnete Kühlschränke zu sehen und ihre Besitzer. Fein säuberlich wird aufgelistet, was zum Essen bleibt: eine Büchse Thunfisch, Mineralwasser, fünf Pitabrote und manchmal Bier. Die größte Warenhauskette „Ha Maschbir“ zahlt ihren Angestellten erst Mitte August die Hälfte des Juli-Gehalts, und am Wochenende fasst die Polizei einen 12-jährigen Schüler, der, mit einem Messer bewaffnet, in der Wüstenstadt Beer Scheva einen Pizzalieferanten überfallen hat. Nicht, um an dessen Geld zu gelangen, sondern an die heißen Pizzas in der Thermotasche. Der Polizei sagt der Junge: „Ich hatte Hunger.“

Kiosk der Langeweile

Bernardo Fischer steht in kurzen Hosen und weißem T-Shirt in seinem Kiosk an der lautesten Kreuzung Tel Avivs und schmiert Brote. Eines mit Thunfisch, eines mit Eiern und Salatblättern, eines mit Rührei, das seine Frau Karmiela am Morgen zubereitet hat. Der Fernseher läuft, ein heißer Wind weht vom Strand, und der 52 Jahre alte Bernardo zählt die Stunden bis zum Ladenschluss. Der Kiosk war nie Bernardos Idee, es war sein Vater, Salomon, der, aus Argentinien kommend, ein Auskommen suchte für die Familie und den Kiosk eröffnete. Die Glanzzeiten allerdings sind Vergangenheit. Auch wegen der Intifada. „Früher war schon am Morgen der Stapel Zeitungen weg“, sagt Bernardo Fischer und nascht eine Gurke, „heute überlegen die Leute zweimal, ob sie viereinhalb Schekel (1 Euro) ausgeben.“ Früher wurde Fischer zwischen 500 und 600 Zeitungen los, heute höchstens 30 am Tag. Ohne die Hilfe der ganzen Familie wäre das Kiosk längst der Rezession zum Opfer gefallen. Morgens ab vier drapiert Großvater Salomon Zeitungen und Zeitschriften um den Kiosk herum, ab halb sieben löst ihn der Sohn ab und bleibt bis zum Mittagessen. Am Nachmittag steht Bernardo Fischer sich wieder die Beine in den Bauch, bis Mitternacht, manchmal bis um eins. Die größte Freiheit, die sich der Herr über vier Quadratmeter gönnt, ist morgens zwischen fünf und halb sieben: Dann joggt Bernardo Fischer dem Sonnenaufgang entgegen und vergisst die Intifada, den Kiosk, die Langeweile. Der Umsatz ist in den letzten zwei Jahren um 50 Prozent zurückgegangen, eine Dose Cola, Marzipan aus Deutschland und Zigaretten sind plötzlich Luxus geworden. „Es sind auch viel weniger Menschen auf den Straßen, sie trauen sich wegen der Anschläge nicht ’raus oder haben einfach kein Geld“, hat er beobachtet.

Nur eine Ware bringe steten Gewinn: die mehr als vierzig verschiedenen Pornohefte. Während Bernardo von den trüben Zeiten spricht, bittet ein orthodoxer Israeli mit leiser Stimme um vier Pornohefte, „egal welche“. Diskret stopft Bernardo Fischer die Hefte in eine Tüte und legt das Geld in die Kasse, 250 Schekel, etwa 60 Euro. Zum ersten Mal an diesem Tag strahlt er.

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